Die Utopie musikalischer Kooperationen

Über einige Aspekte vierhändigen Musizierens
Von CHEN Chengwen + Tobias Klich

So ungewöhnlich die Idee, zu zweit auf einem einzigen Instrument zu musizieren, zunächst erscheinen mag, so ist dies doch keinesfalls eine neue Erfindung. Im Folgenden daher eine kurze Annäherung an einige Stationen der Musik- und Kunstgeschichte.

Bereits um 1600 wurden auf diese Weise zwei Komponisten zu einem besonderen Denken über den Zusammenhang von Musik und deren körper­licher Realisation inspiriert. Nicht zufällig wählten John Dowland (1563–1626) und Tobias Hume (um 1569–1645) für ihre vierhändigen Stücke für Laute beziehungsweise für Viola da gamba, musikalische Formen von höfischen Tänzen ihrer Zeit (Galliard bzw. Allemand), inszenierten diese jedoch nicht allein als Musik zum Tanz, sondern vielmehr als Choreographie der Musizierenden selbst. Auch die durch den Tanz zuweilen entstehende körperliche Nähe wird hier direkt übertragen auf die Musikerinnen und Musiker, die eng beieinander sitzen müssen, um beide zugleich auf dem jeweiligen Instrument spielen zu können.

In John Dowlands 1597 veröffentlichter Komposition My Lord Chamber­lain his galliard (An invention for two to play upon one lute) gibt es zunächst eine klare Aufteilung der beiden Stimmen in »Cantus« und »Bassus«, also in eine hohe, größtenteils einstimmige Melodie, ge­spielt vorwiegend auf den oberen beiden Saiten der Laute und in eine mehrstimmige Begleitung auf den tieferen Saiten. Die Notation als Tabulatur mit Angabe der Griffpositionen macht eindeutig, in welchem Bund und auf welcher Saite die Töne jeweils gespielt werden sollen. Auf diese Weise bleiben die beiden Stimmen in ihrem jeweils klar abgegrenzten Bereich, damit sich die Spielerinnen und Spieler nicht gegenseitig mit ihren Händen behindern.

Doch dann kommt es im dritten Abschnitt des kurzen Stücks unvermit­telt zu einem taktweisen Wechsel der Stimmen (siehe jeweils die dritte Zeile der Tabulatur). Einerseits wird hier der musikalische Fluss durch die Wiederholung der Takte angehalten, anderseits ent­steht durch das dafür erforderliche schnelle Tauschen der Hände eine ganz eigene szenische Bewegungsdynamik, die im Kontrast zum musika­lischen Verharren der Harmonik steht. Hier – im Moment dieser Gegen­läufigkeit – werden Hören und Sehen zu eigenständigen, unabhängigen Ebenen des Ausdrucks.

John Dowland (1563–1626)
My Lord Chamberlain his galliard
(An invention for two to play upon one lute)
aus: The First Booke of Songs or Ayres (1597)
Tobias Hume (um 1569–1645)
The Princes Almayne
(A Lesson for two to play upon one Viole)
aus: The first part of Ayres (1605)

In der Komposition The Princes Almayne (A Lesson for two to play upon one Viole) von Tobias Hume, welche kurz darauf als Antwort auf Dowlands Stück entstand, ist eine szenische Dramaturgie auskompo­niert, die sich im Verlauf des Stücks immer mehr verdichtet: Ausge­hend von einem solistischen Beginn des zweiten Spielers mit der Prä­sentation des musikalischen Themas, wirkt das spätere Hinzukommen der anderen beiden Hände als eine Steigerung, die mit einer Oktavierung der Oberstimme korrespondiert. Die Momente des Stimmentauschs gesche­hen im Folgenden nun allmählich immer schneller und auch noch häufi­ger als bei Dowland. Die daraus resultierende körperliche Energie wird durch die harmonischen Rückungen der Komposition sogar ver­stärkt: Das körperliche und musikalische Gleichgewicht gerät hier leicht ins Schwanken.

Das vierhändige Musizieren in diesen beiden außergewöhnlichen Werken von Dowland und Hume ist aber nicht nur eine Manifestation des Sicht­bar-Werdens von Musik, es verdichtet sich, durch die subtile sinn­liche Intimität und körperliche Nähe beim musikalischen Zusammenspiel auf einem einzigen Instrument, auch zum Sinnbild der erotischen Ambi­valenz von Nähe und Distanz.

Unter diesem Aspekt könnte man auch einige Bilder des japanischen Künstlers Suzuki Harunobo (um 1725–1770) betrachten, die das gemein­same Musizieren auf einem Instrument zeigen, ein Bildmotiv, das er mehrfach in seinen Farbholzschnitten mit verschiedenen traditionellen japanischen Musikinstrumenten variierte, unter anderem mit Kokyū (einer mit Bogen gestrichenen Langhalslaute), mit Shamisen (einer dreisaitigen, gezupften Langhalslaute) und mit Bambustraversflöte.

Die Instrumente werden dabei nur mit zwei oder drei Händen bespielt, aber stets liegt der visuelle Fokus auf der körperlichen Nähe der beiden Musizierenden. Die Intimität der Situation wird nur dezent angedeutet, beispielsweise durch die zum Teil bereits ausgezogenen Schuhe oder die beim Stimmen der Saiten sich ergebende sanfte Um­armung der Mitspielerin.

Anders als bei Dowland und Hume und ihren sich ergänzenden, aber klar voneinander getrennten Stimmen, wird auf den Bildern von Suzuki Harunobo, der asiatischen Musikkultur entsprechend, jeweils nur eine einstimmige Melodie gespielt, hier aber gemeinsam auf einem Instru­ment. Die Aufgaben sind dabei klar aufgeteilt: eine Person greift die Töne, die andere zupft, streicht oder bläst. Ein einzelner Ton wird also jeweils erst durch das Zusammenwirken von zwei Körpern erzeugt.

Ohne den jeweils anderen würde der gesamte Klang nicht realisiert werden können; ohne die Griffe, würde nur ein einziger Ton erklingen; ohne das Zupfen, Streichen oder Blasen, gäbe es gar keinen Klang. Das demnach für die Koordination der Hände erforderliche Vertrauen und das bewußte Aufeinanderreagieren, lässt sich durch die ruhige und innige Konzentration, die die Figuren ausstrahlen, nur erahnen.

Suzuki Harunobo (um 1725–1770)

Liebende beim Spielen derselben Kokyū
ca. 1768–69, Farbholzschnitt auf Papier,
26,7 cm x 19,7 cm, Brooklyn Museum,
Photo: Frank L. Babbott Fund,
Referenznummer: 41.606
Liebende beim Spielen derselben Flöte
ca. 1767, Farbholzschnitt auf Papier,
26,8 cm × 19,7 cm,
Clarence Buckingham Collection,
Referenznummer: 1937.20
Liebende beim Spielen derselben Shamisen
ca. 1767, Farbholzschnitt auf Papier,
27,9 cm × 20,1 cm,
Clarence Buckingham Collection,
Referenznummer: 1925.2079

Die Berührung der Körper und insbesondere die der Hände hatte auch Johannes Brahms bei seinen Werken für Klavier zu vier Händen gele­gentlich im Sinn. Ein besonderer Moment ist in diesem Zusammenhang eine Stelle aus seinen Variationen über ein Thema von Robert Schumann op. 23 (1861).

In der sehr innigen, aber zugleich auch düsteren vierten Variation dieses Werks kommt es hierbei mehrmals zu einem kurzzeitigen Über­kreuzen und einer daraus resultierenden sanften Berührung der Hände der beiden Interpreten. Nach ersten Überkreuzungen der Stimmen in den Takten 2 und 4 legt sich schließlich im neunten Takt die linke Hand des ersten Spielers beim Greifen eines oktavierten es, zart auf die rechte Hand des zweiten Musikers, der ein dazwischen liegendes ges spielt. Die Idee der kontrapunktisch ineinander verschränkten Stimmen wird hier von Brahms also auf der körperlichen Ebene zwischen den Händen der beiden Musizierenden weitergedacht.

Notenbeispiel: Johannes Brahms: Variationen über ein Thema von Robert Schumann für Klavier zu vier Händen, op. 23 (1861), Variation IV.

Ganz anders dagegen verfährt Jean-Philippe Rameau (1683–1764) in seiner solistischen Komposition Les trois mains (Die drei Hände), in der eine imaginierte dritte Hand hinzukommt. Schon zu Beginn des Stücks werden die Finger beider Hände gleich ganz eng ineinander ver­schränkt. Die linke Hand beginnt zunächst unter der rechten, bereits nach wenigen Tönen verschachteln sich die Finger ineinander und kurz darauf befindet sich die linke plötzlich über der rechten Hand, doch schon in Takt 3 werden die Positionen wieder getauscht und so weitet sich der Ambitus der linken Hand allmählich aus.

Notenbeispiel: Jean-Philippe Rameau: Les trois mains aus der Suite in a-Moll aus den Nouvelles Suites de Pièces de Clavecin (1726–1727), ab Takt 1.

Etwas später im Verlauf des Stücks, springt die linke Hand schließ­lich zwischen Bass und Diskant hin und her, während die rechte Hand fest in einem engen Tonraum mit einer Sechzehntel-Begleitfigur ver­harrt (ab Takt 31), wodurch immer mehr der Eindruck von drei musika­lisch selbständig agierenden Stimmen entsteht. Die Vervielfachung der Hände geschieht jedoch nur virtuell, eher als Wunsch, für die poten­tielle Vielstimmigkeit eines einzelnen Körpers beziehungsweise Geis­tes, einen Ausdruck zu finden.

Notenbeispiel: Jean-Philippe Rameau: Les trois mains, ab Takt 26.

Die hier erwähnten Werke beleuchten jeweils unterschiedliche Aspekte des vierhändigen Musizierens: Die Choreographie der musizierenden Körper bei Dowland und Hume, die intime zwischenmenschliche Kommuni­kation in den Bildern von Suzuki Harunobo, die Berührung der kontra­punktisch ineinander verschränkten Stimmen und Hände bei Brahms, die virtuelle Mehrstimmigkeit bei Rameau.

Bei unserem eigenen Zyklus mit vierhändigen Kompositionen für Gitar­re, Violoncello und Akkordeon (2016–2020) kommen nun noch zwei andere Aspekte hinzu: Zunächst die Vorstellung der vierhändig agierenden Musikerinnen und Musiker als Doppelwesen, so wie die in Platons Symposion beschriebene ursprüngliche Menschengestalt in Form von vierarmigen Kugelwesen, die – von den Göttern getrennt – die Wieder­vereinigung mit ihrer anderen Hälfte begehren. Dies führt uns dazu, auch die Instrumente selbst als Doppelwesen zu betrachten. Bei Gitarre und Cello ist dies die Saite, die auf beiden Hälften unter­schiedlich klingen kann: So erscheint die lineare chromatische Skala immer auch im Zusammenhang mit der exponentiellen Skala der anderen Saitenhälfte. Beim Akkordeon, das durch die getrennte Bass- und Dis­kantseite selbst schon ein »androgynes« Wesen ist, fokussieren wir uns dagegen auf die Differenztöne, die zwischen einem gehaltenen Ton und einer linearen chromatischen Skala entstehen.

Das am Ende hinzutretende dritte Wesen ist daher auch eigentlich nicht etwas Fremdes, das von außen hinzu kommt, sondern etwas, das durch die Differenztöne zwischen den beiden Stimmen virtuell schon anwesend ist und hier mit der Dopplung durch die Melodica nun seine reale Gestalt gewinnt. Diese dritte Person zeigt sich am Ende unseres Zyklus nochmals allein. Bei ihr werden dann schließlich – durch das gleichzeitige Singen und Pfeifen – in einem Körper zwei Stimmen zusammengeführt.

Notenbeispiel: CHEN Chengwen + Tobias Klich: Musik für Stimme (2020), aus: 4 Hände (2016-2020).

Zum anderen betrifft dies unsere kompositorische Zusammenarbeit selbst: ein Arbeiten aus dem fortwährenden gemeinsamen Dialog heraus, ebenfalls als vierhändiges Ineinanderwirken ohne klar abgegrenzte Zuständigkeitsbereiche.

Der utopische Gehalt all dieser hier beschriebenen Werke könnte also dies sein: die Wahrnehmung der Einheit der auf der Bühne musizieren­den Körper mit der von ihnen hervorgebrachten Musik, aber auch dies: eine Vision von zwischenmenschlicher Kooperation, die zu zweit etwas hervorbringt, das alleine so nicht möglich gewesen wäre.

Dieser Text ist eine zarte Ver­neigung vor dem Musikwissen­schaftler Nicolas Schalz und seiner steten Ermutigung, die Modernität alter Musik aufzu­spüren und deren spezifisches utopisches Potential zum Bewußt­sein zu bringen. Am 3. September 2020 – genau ein Jahr vor der Uraufführung von 4 Hände – starb Nicolas Schalz. Dieser Text ist seinem Gedenken und der Vergegenwärtigung seiner inspirierenden Art gewidmet, musik- und kunstgeschichtliche Spuren nicht nur zu suchen, sondern auch neu zu legen. (CHEN Chengwen + Tobias Klich)