Ein undurchdringliches Selbst verliebt sich und verliebt sich wieder und wieder

oder: Die Geburt des Fragments
Von Astrid Kaminski

»Macht geht über Verfügungsgewalt: ›ich bestrafe dich‹, bis hin zu Deutungshoheit: ›das bedeutet das‹. Aber auch: ich gleiche dich mir an, damit du zu einer Verlängerung meiner Selbst wirst, eliminiere das Andere, vergleiche etwas mit etwas, gleiche an. Und frage mich, ob das auch für den Umgang mit sich selbst gilt?«

Angela Schubot über ihre Trilogie »Körper ohne Macht«

Kürzlich traf ich zwei Menschen, die bis zur Flucht aus dem Her­kunftsland etwa die Hälfte der jeweiligen Leben im Gefängnis ver­bracht haben. Sie waren seit mehr als 50 Jahren ein Paar und ihre Beziehung musste lange Phasen von Isolationshaft bestehen. Die längste Phase dauerte elf Jahre. Wie bezieht man sich in so langen Phasen der Trennung aufeinander? Die ganze Antwort konnten wir in dem zweistündigen Gespräch, das wir vereinbart hatten, nicht ergründen, aber ein Teil davon hat mich, in all seiner Rätselhaftigkeit, beein­druckt: »Ich habe mich dreimal verliebt. Im Gefängnis habe ich mir die Zeit genommen, meine Fehler zu reflektieren. Dadurch konnte ich mich neu verlieben.«

Was steckt dahinter? Wie prägen uns unsere Fehler und die der anderen? Was ist ein Fehler, ein Fehlverhalten? Oft weniger etwas, was an sich »falsch« ist, als eine Kombination aus Erfahrungen und Reflexen, ein Schaltkreis, der eine gewisse Logik, aber keinen positiven Effekt kennt. Beim Nachdenken über sich selbst ist (hoffentlich) den meisten Menschen recht schnell klar, bei welcher Gelegenheit sie daneben lagen, was sie gerne besser machen würden, wann sie zu schnell die Fassung verloren, ungerecht waren, nicht ehr­lich, sensibel oder empathisch genug, zu selbstgewiss, zu wankelmü­tig, zu wenig wertschätzend, zu egoistisch etc.

Wenn nun etwas davon weniger wird, und das Gegenüber sich als Folge davon umfassender wahrgenommen fühlt, mehr wertgeschätzt, dann lässt sich gut vorstellen, dass in diesem vergrößerten Wahrnehmungsraum auch andere Facetten des geliebten Menschen in Erscheinung treten, vielleicht sogar ein anderer Mensch. Weniger der- oder diejenige, zu dem oder der wir das Gegenüber gemacht haben; mehr von den Möglich­keiten Person, die wir noch gar nicht kennen. Ein Teil der Persön­lichkeit kann also vielleicht aus dem Gefängnis eines bestimmten Schaltkreises austreten: das Reflektieren der eigenen Fehler gleich­zeitig als Raumgeben und als Sehenlernen. Eine Reduktion im Sinn einer Multiplikation.

Bei der Aufführung von CHEN Chengwens und Tobias Klichs Zyklus »4 Hände« macht im besten Fall niemand einen Fehler, und wenn, dann hören es vermutlich nur sehr wenige der Publikumsgäste. Die Virtuosi­tät, die diese Komposition im hohen Maß fordert, fußt auf einem vorausgesetzten hochausdifferenziertem Fehlervermeidungssystem: In der professionellen Musik kann davon ausgegangen werden, dass (an Fehlern geschulte) Fehlerlosigkeit bei einem Konzert die Basis für das Feintuning ist, für Klangfarben und andere Interpretationsfein­heiten – im besten Fall für ein Aufgehen in einem gemeinsamen Gefühl, das, bevor es entstand, nicht definierbar gewesen wäre.

Virtuosität ist jedoch ein zweischneidiges Schwert: In einer auf systemischer Ungleichheit gegründeten Weltordnung kommt sie nicht ohne den Beigeschmack der Exklusivität, das System der Exzellenz, des Ausschlusses minder Begabter aus. Sie ist daher genauso ein Privileg – allerdings weniger im Sinn einer Annehmlichkeit – wie ein mögliches Erkenntnisinstrument.

Sind aber Virtuosen, die ihre Gegenüber weitgehend nicht durch die eigenen Fehler einschränken, sondern ihre Entfaltungen wechselseitig unterstützen, bessere Liebende? Dieser Gedanke ist schon darum ein Trugschluss, weil gerade das Exzellenzprinzip oft nur durch eine relativ egoistische Lebensführung aufrecht erhalten werden kann und sich die Erfahrungen des künstlerisch sensibilisierten Subjekts nicht automatisch auf die Alltagspersönlichkeit übertragen. Im Gegenteil sind Fälle bekannt, in denen die Hingabe an die Kunst massiv zur Regression der Alltagspersönlichkeit führt. Der Virtuose oder die Virtuosin wird zur reinen Arbeitskraft an einer vielleicht ebenso künstlerischen wie künstlichen Utopie.

Es besteht daher ein Unterschied, ob Virtuosität und ihre Verdienste eher als (produktbezogener) Sinn an sich wahrgenommen werden, oder ob sie die Voraussetzung für künstlerische Feldforschung bilden, die im Sinn einer »response-ability« Erfahrungen generiert, zu denen die Forschenden die Möglichkeit haben, eine Haltung einzunehmen.

CHEN Chengwen und Tobias Klich durchbrechen das Prinzip der Virtuosi­tät als Selbstzweck oder als Erfüllungsgehilfe, indem sie es einer Choreografie der Nähe aussetzen, in der die Expertin oder der Experte an sich nichts ausrichten können. In »4 Hände« reicht es nicht, für die (hoch präzise) Notenschrift eine perfekte Klangumsetzung zu finden, vielmehr findet die Klangerzeugung in einem Wahrnehmungsraum statt, der Reibung schafft, der erfühlt, ertastet und erlebt werden muss.

»4 Hände« erfordert zunächst einmal eine große körperliche Nähe: Zwei Menschen positionieren sich hintereinander hinter einem einzigen Musikinstrument. Um es beide aus der vorgegebenen Position heraus bespielen zu können, drückt die Vorderseite des einen wahrscheinlich gegen die Rückseite des anderen Körpers: eine nicht alltägliche Nähe entsteht, bzw. eine im Alltag eher für den Fall (intimer) Vertraut­heit reservierte. In Kategorien gedacht, ist dies keine Konzertanord­nung, sondern eine musiktheatrale Konstruktion, eine Regie-Entschei­dung, die Fragen aufkommen lässt: Wie ist es, aus so einer Position heraus Musik zu spielen? Stört sie bei der Konzentration, versucht man sie daher so weit wie möglich auszublenden? Oder schafft sie eine gefühlsmäßige Unsicherheit, die aufgrund ihres Ungewohnten eher sensibilisiert?

Was im Umfeld dieser Fragen zunächst auffällt: Wie wenig konkrete Situationen körperlicher Nähe jenseits von Dienstleistungen im Alltagsleben zu finden sind – nicht nur aufgrund der aktuellen Covid-19-Pandemie. Es gibt die körperliche Nähe von Liebenden, die vergleichsweise schon sehr reduzierte von Freund:innen, aber darüber hinaus kaum Situationen, in denen wir Näherituale erproben, uns spe­zifischen Körperbegegnungen aussetzen. Mit einer Ausnahme: den zeit­genössischen Tanz. In den letzten Jahren hat er sich, auch aufgrund der Diskrepanz zwischen den Erfahrungen der Bühnenkünstler:innen und denen der Zuschauer:innen, stark zum Publikum hin geöffnet, teils um genau solche nicht-üblichen Nähesituationen zu schaffen: sich gegen­seitig den Kopf zu halten, das Ohr zu erkunden, 10 Minuten lang in die Augen zu schauen, im Dunkeln den Rücken zu betasten. Ein beson­ders radikales Nähe-Laboratorium hat das Choreograf:innen-Duo Angela Schubot und Jared Gradinger geschaffen, die über mehrere Jahre kör­perlich, seelisch und geistig an der Auflösung des Ego und Konstruk­tion einer gemeinsamen physischen Präsenz gearbeitet haben. Sie haben den wahrscheinlich den meisten Menschen bekannten Wunsch, einmal in den Körper oder in den Kopf des oder der Anderen zu schlüpfen, als konkrete Übung ernst genommen.

»Es ist zum Verständnis ihrer Kunst notwendig, sie nicht nur zu hören, sondern auch zu sehn«, heißt es in Franz Kafkas Kurzgeschichte über das Pfeifen »Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse«. Dasselbe gilt für die Musiker:innen in »4 Hände« in ihrer gemälde­haften Anordnung: Von vorne betrachtet (was in der Filmversion der Komposition besonders gut geht), sehe ich ein symbiotisches, vier­armiges, fein auf seine Interaktionen eingespieltes Wesen. Besonders die Spannung zwischen atmosphärischer Symbiose und physischer Wahrung eines hauchdünnen Abstands der Glieder untereinander fasziniert mich. Dazu kommt das Staunen darüber, dass die visuelle Choreografie weit­gehend das Ergebnis eines Notentextes ist, dass heißt: Ein einziges Notationssystem informiert sowohl den Klang als auch die Bewegung. Das heißt weiterhin: Die Musiker:innen werden, wenn wir Choreografie als Ordnen von Bewegungen und Zeichen im Raum begreifen, zu Tänzer:innen. Wenn das die Regel wäre, dann hätte es nicht den Komponisten Igor Strawinsky und den Choreografen Vaslav Nijinsky gebraucht, um den Ballettabend »Sacre du Printemps« entstehen zu lassen. Dann wären Strawinsky und Nijinsky dieselbe Person.

Nun gibt es aber im Fall von »4 Hände« statt der Arbeitsteilung zwischen Komponist und Choreograf diejenige zwischen den zwei ver­antwortlichen Komponisten, die als Minikollektiv ein gemeinsames Stück für jedoch ein einziges Cello (bzw. eine Gitarre und ein Akkor­deon) schreiben, das wiederum zunächst von zwei Musiker:innen, die wie ein:e einzige:r agieren, gespielt wird. Ganz offensichtlich ist also ein Interesse am Symbiotischen vorhanden, das zudem unterstri­chen wird vom auf den Komödiendichter Aristophanes zurückgehenden Kugelmensch-Mythos aus Platons »Symposium«.

Darin wird von Menschen mit drei ursprünglichen Geschlechtern ausge­gangen, einem männlichen, einem weiblichen und einem androgynen, die jeweils, um ihre zerstörerischen Kräfte zu schwächen, von den Göttern in der Mitte durchgeschnitten wurden. Folglich gingen aus dem andro­gynen Geschlecht heterosexuell orientierte Menschen hervor, die je­weils das andere Geschlecht als Ergänzung suchen, aus den einge­schlechtlichen ging eine homosexuelle Orientierung hervor. Alle suchen sie ihr anderes Teil und wenn es tatsächlich gelingt, also nicht irgendein Mann irgendeinen Mann findet, sondern seine andere Hälfte, dann »werden sie von wunderbarer Freundschaft, Vertraulich­keit und Liebe ergriffen und wollen, um es kurz zu sagen, auch keinen Augen­blick voneinander lassen.«

Ich kenne keinen stringenteren Erklärungsversuch, der sexuelles Be­gehren und Liebe so logisch wasserdicht begründet und dabei auch noch so bildhaft illustriert. Es ist daher zunächst eine große visuelle Genugtuung, wenn Tobias Klich und CHEN Chengwen Aspekte dieser Logik und damit die Sehnsucht nach einem vorgestellten »Urzustand«, musika­lisch-choreografisch-ikonografisch illustrieren. Auf dieser Faszina­tion aufbauend, bewegt sich ihre Interpretation nun sanft subversiv zwischen Zitat und Irritation. Ihr Kugelmensch ist kein mythologi­sches Superpowerwesen, das sich in seiner glücklichen (Wieder-)Ver­einigung sonnt, sondern eines, das im ständigen, sensiblen Dialog mit sich selbst sowie mit einem weiteren Akteur ist: dem Instrument.

Die Optionen, die Platon-Aristophanes anbieten, sind durchaus be­schränkt: ein binäres System letztlich, in dem es entweder das Eine, das Andere oder eine Mischung aus beidem gibt. Was ist mit jenen Men­schen, die sich als fluid, weder als Mann, noch als Frau, noch als androgyn oder als Hermaphrodit definieren wollen? Die Sexualität und Sensualität nicht in Bezug auf ihr biologisches Geschlecht (er)leben wollen oder ihr Geschlecht nicht als Objekt fixierter und vorgepräg­ter Erfahrungen?

Vereinigung oder Symbiose bedeutet bei Platon das Aufwiegen und Kom­binieren von Dualismen, die zwar ein Drittes entstehen lassen, aber letztlich von einem Einheits- und nicht von einem Vielheitsprinzip ausgehen, in dem alle Wesen nur mit und durch andere bestehen. In »4 Hände« dagegen wird nicht die Aufhebung der Dualität, sondern ihre Erweiterung, zunächst durch die Inklusion der Musikinstrumente als weitere Akteur:innen, später durch eine Fragmentierung der entstan­denen Realitäten, performt. Eine Menage à trois, die sich dehnen, erweitern und wiederum umkehren lässt. Dabei scheint es weniger um eine Vereinigung als eine möglichst große und präzise Annäherung zu gehen: Stets besteht eine hauchdünne Distanz, eine seelische Diskre­tion zwischen Scheu und Achtsamkeit zwischen den Spielenden und lässt an die andere berühmte »Symposium«-Überlieferung, die auf Sokrates zurückgeht, denken: die der platonischen Liebe – sowohl in ihrer ur­sprünglichen Bedeutung der geistigen Verfeinerung im Sinn der Schön­heit, als auch der Variante einer unmöglichen oder unerfüllten Liebe, wie wir sie durch spätere Interpretationen kennen.

In diesem Sinn ist es genauso rätselhaft wie faszinierend, dass am Ende dem bildlichen, in altmeisterlicher Lichtführung präsentierten Triptychon »4 Hände« die »Musik für Stimme« zur Seite gestellt wurde. Sie wirkt äußerlich zunächst wie eine Komposition für einen solisti­schen Virtuosenakt, bei dem die bisherige, musiktheatrale Anordnung und der Fokus auf die Hände verlassen wird. Tatsächlich ist »Musik für Stimme« im Gegensatz zu den Vorgängerwerken einstimmig notiert. Beim Zuhören fallen jedoch schnell die verschiedenen Register – vor allem zwischen Pfeifen und Gesangsstimme – auf. Darin kehren dann sowohl die für die gestische Entfaltung des vorausgegangenen Trip­tychons wichtigen Skalenbewegungen zurück, wie auch die spärlichen Melodie-Elemente, nun jedoch in einer internalisierten oder auch verkörperten Form. Durch die Verkörperung, durch den Rhythmus der Erfahrungsaneignung, wird Empfindung zur Form, Seelisches zu Geistigem.

Vielleicht lässt sich »Musik für Stimme«, unabhängig davon, dass sie von einer physischen Frau gesungen wird, wie eine Schwangerschaft vorstellen, aus der ein Wesen mit mehreren Händen und sozialen Ge­schlechtern hervorgehen wird – kein in der Mitte zerschnittenes, son­dern ein fragmentiertes Kugelwesen, das sich in der Verbindung mit anderen Wesen sowie dem Ausagieren seiner eigenen Potentiale immer nur partiell zusammensetzen kann: als kleiner Ausschnitt einer Viel­heit. Vielleicht auch erinnern das Setting und die Vokalisen der »Musik für Stimme« nicht umsonst an Samuel Becketts und Morton Feld­mans Oper »Neither«: Das »undurchdringliche Selbst«, wie es darin irrisierend vorkommt, erschafft sich in »4 Hände« eine Form, durch­dringt sich mit einem anderen Selbst, empfindet, meditiert, löst Form auf – verliebt sich und verliebt sich wieder und wieder und wieder, um so den Entfaltungsraum für die anderen Akteur:innen, die Teil und Nicht-Teil der eigenen Präsenz sind, zu multiplizieren.

Astrid Kaminski lebt und arbeitet als Autorin, Journalistin und Redakteurin in Berlin und Athen. Ihr thematischer Schwerpunkt liegt auf performativen Künsten, Meeresontologie sowie ge­sellschaftspolitischen Themen. Zu ihren aktuellen Veröffentlichungen zählt die Essaysammlung »Recipes for the Future« (Hg, Onomatopee, Eind­hoven), der Gespenster-Podcast über schwierige Gefühle (auf Dock 11 Expanded) sowie der Fotoessay- und Gedichtband »Im Magen des Meeres« (erscheint Anfang 2022 bei Moloko Press).