neben dem Ohr das Auge

Gedanken zur Einzelausstellung von Tobias Klich
im Syker Vorwerk – Zentrum für zeitgenössische Kunst
Von Axel Brüggemann

Wo sind wir, wenn wir Musik hören? Mit dieser Frage hat sich der Philosoph Peter Sloterdijk einmal auseinandergesetzt. Seine Antwort: Beim Musikhören befinden wir uns unweigerlich im Klang. Der Klang als Aufenthaltsort. Als eigener Raum, als Raum der uns umgibt und der in uns nistet, als Außen- und Innenraum.

Heute, in der Ausstellung von Tobias Klich, haben wir es mit verschiedenen Künsten zu tun: Mit Bildern auf der einen Seite, mit Kompositionen auf der anderen – aber auch mit Filmen, in denen sich Musik und Bild verbinden. In den Werken von Tobias Klich liegt das Ohr nicht nur neben dem Auge, wie es der Titel der Ausstellung bedeutet, sondern die Sinne, die Auge und Ohr wahrnehmen, das Hören und das Sehen, verschmelzen miteinander – oft unter Mitwirkung des Gehirns, unserer Gefühle oder unserer unmittelbaren Eindrücke – zu einer Einheit, zu einer Wahrnehmung, zu: einem Gedanken.

Als ich Tobias Klich kennengelernt habe, kannte ich ihn als Komponisten, als einen, der Spaß daran hat, mit der Musik neue Klangräume zu erschaffen. Räume, die ungewohnt sind, da sie die altbekannten Konstanten der musikalischen Architektur aushebeln: Tobias Klich baut seine Räume nicht mit dem Handwerkszeug von Ganztönen, von Quintenzirkeln oder den Mitteln der Dur-Moll-Harmonik. Die akustischen Räume von Tobias Klich sind nicht aus altbekannten Ziegelsteinen gebaut, nicht aus Beton angemischt, nicht auf die Vorgabe von rechten Winkeln angewiesen. Tobias Kilch nutzt für uns ganz ungewohnte Klang-Raum-Bau-Materialien: etwa Glissandi, in denen die Töne – vollkommen ohne Halt – verrutschen. Oder die komplett neue Stimmung von Gitarrensaiten, die dazu führt, dass selbst geübte Gitarrenspieler ein vollkommen neues System erlernen müssen. Nichts ist hier so, wie es scheint. Töne, die nicht auf der normalen Halbtonleiter angelegt sind, Töne, die schnarren, klappern, fauchen oder auf andere Weise Un-Töne sind, oder besser: unbekannte Töne. Töne als Material, mit denen vollkommen neue Räume entstehen können.

Dass wir uns beim Hören im Raum des Klanges befinden, der uns umgibt, ist nur logisch. Während das Bild in der Regel an der Wand hängt, fordert es uns zum Dialog auf, ist ein fixer Punkt im Raum. Beim Hören ist das Ohr dagegen von allen Seiten vom Klang umgeben. Beim Sehen sucht das Auge das Bild als real existierendes Gegenüber. Das Bild, das an der Wand hängt, die Wand, die eine Galerie oder ein Museum definiert, das Museum, das an einer Straße oder in einem Garten steht, eine Straße oder ein Garten, der Teil einer Stadt sind – und so weiter und so fort. Das Bild an der Wand ist stets in der Welt verortet.

Und noch einen Unterschied gibt es zwischen den beiden sich so naheliegenden Sinnesorganen, den Augen und den Ohren: Das Bild, das das Auge sieht, ist in er Regel ein fertiges Objekt. Egal, ob es die »Los Caprichos« von Goya sind oder ein Gemälde von Tobias Klich: Das Gemälde ist fertig, wird in zehn oder zwanzig oder 100 Jahren noch genau so aussehen wie heute. Das Bild hat nur einen Schöpfungsakt: Es wird gemalt – und danach angeschaut, so lange es existiert.

Mit der Musik verhält sich das anders. Ich empfehle Ihnen einmal einen Blick in die Partituren, die im Nebenraum ausliegen. Und ich verspreche Ihnen: Selbst als musikalischer Mensch werden Sie sich anhand der gedruckten Noten kaum den Klang vorstellen können, der entstehen wird, wenn diese Musik gespielt wird. Mehr noch: Nie wird das selbe Stück gleich gespielt werden. Je nachdem, wer es spielt, wo es gespielt wird, vor wem es gespielt wird, wird die Musik sich jedes Mal anders anhören. Vielleicht nur in Nuancen, vielleicht aber auch in grundlegenden Interpretationsansätzen. Der Dirigent Daniel Barenboim spicht beim Musizieren von der ewigen Erneuerung des immer Gleichen.

Was das Bild vom Klang unterscheidet, ist, dass es nur einen Schöpfungsakt hat, wohingegen die Musik in der Regel zwei Schöpfungsakte kennt: Die einmalige Schöpfung der Noten auf dem Papier und die ewige Neuschöpfung, die nötig ist, um diese Noten auch real erklingen zu lassen – um jenen Klangraum herzustellen, in dem wir uns bewegen können, so lange die Musik erklingt. Ein Raum übrigens, der nach einem Konzert nur verklungener Schall ist und ungreifbare Erinnerung. Anders als ein Bild, das bleibt und immer wieder angesehen werden kann.

Als ich Tobias Klich zum ersten Mal kennengelernt habe, habe ich ihn natürlich gefragt, wie er das Verhältnis von Malerei und Komposition in seinem Leben definiert. Seine Antwort war eher simpel: Beides hat immer nebeneinander stattgefunden, lange Zeit, ohne direkten Bezug aufeinander. Mal war die Malerei ein Ausgleich, eine Ablenkung oder ein willkommenes, vollkommen anderes Feld gegenüber der Komposition. Aber allmählich zeigte sich, dass Tobias Klich in beiden Künsten ähnliche Fragen aufwirft, vielleicht zunächst unbewusst –heute immer deutlicher und klarer.

Eine der großen Fragen, denen Tobias Klich nachgeht, scheint mir der Raum an sich zu sein. Also die Frage nach dem Wo, wenn wir hören oder sehen.

Das Bild, mit dem er sich für den Werner-Kühl-Preis beworben hat, bekam nachträglich den Titel »Leere Spiegel«. Dieser Titel ist in Wahrheit aber gar nicht nötig, um zu verstehen, was wir sehen.

Eben haben wir festgestellt, dass das Bild eigentlich immer ein gegenständlicher Fixpunkt ist, der in einem Raum definiert ist. Bei Tobias Klich wird das Bild vor unsren Augen nun selber zum Raum. Und dieser Raum hat sehr viel Ähnlichkeit mit den Räumen, die Tobias Klich mit seinen Klängen baut: Ein Raum ohne klar definierte Ecken und Kanten, ohne eindeutige Proportionen, ohne Zentralperspektive, ja, selbst ohne klare Schichtungen und ohne klaren Aufbau. Der Raum tanzt, wird selber zur Musik und beginnt, uns zu umgeben, wenn wir es schaffen, wozu er uns einlädt: ihn zu betreten, uns in ihm aufzuhalten, ihn zu durchwandern.

Dabei stellen wir schnell fest, dass wir unseren Körper umschulen müssen, so wie der Gitarrenspieler, der das Gitarrenspiel auf der von Tobias Klich präparierten Gitarre vollkommen neu lernen muss. Wenn wir uns auf den Raum einlassen, den das Bild von Tobias Klich uns vorschlägt, beginnen wir zu schweben, verändern unsere Größe, verlieren das Bewusstsein für das, was eigentlich möglich ist und was nicht. Der Raum der leeren Spiegel nimmt uns auf – und verändert, während wir ihn sehen, andauernd unsere Position. Es gibt hier keinen Halt, keine Ruheposition, kein ewig gleichen Moment, weil alles zum anderen neu sortiert werden muss: vermeintlich Gegenständliches wird abstrakt, das Abstrakte als Gegenstand erkennbar – um sofort wieder zu verschwinden.

Mit anderen Worten: Tobias Klich schafft Räume für die Augen, die funktionieren wie die Räume für das Ohr. Räume, die uns umgeben, die kein Gegenüber mehr sind, sondern die uns in sich aufnehmen. Räume, die wir zunächst als Bilder, als Gegenstände an der Wand wahrnehmen, als Außenräume, die wir aber betreten können, in Gedanken – und von denen wir früher oder später umschlungen sind.

Im Nebenraum sehen Sie verschiedene Videos mit musikalischen Werken von Tobias Klich. Und sie funktionieren ähnlich wie seine Bilder. Nehmen wir die abenteuerliche Komposition »grüntrübe Ritornelle beim Verlassen des Territoriums«. Die Versuchsanordnung geht so: Mit Löffeln und Kapodaster wird eine Gitarre in fünf Teile – quasi in fünf unabhängige Teil-Gitarren – verwandelt. Jeder Teil basiert auf einem nicht normierten Tonsystem. Im Konzert wird jeder Teil per Mikrofon einzeln abgenommen und über acht Lautsprecher verstärkt wiedergegeben. Der Effekt ist verblüffend: Der Zuhörer befindet sich beim Hören nicht mehr nur in einem vom Klang umgebenen Raum, sondern hat das Gefühl, sich selber IN DER GITARRE, also im eigentlichen, gegenständlichen Klangraum zu befinden. Und genau diesem Gefühl verleiht Tobias Klich in seinem Video Bilder: Das Auge sieht, wo sich die Ohren zu Hause wähnen.

Oder nehmen wir die Komposition »Musik für Gitarre zu vier Händen« (gemeinsam komponiert mit Cheng-Wen Chen) – es ist nicht nur ein Werk für zwei Menschen, die auf einem Instrument spielen. Der Klang (und auch hier lohnt sich wieder ein Blick in die Partitur) gibt die Bewegung, und damit das choreographierte Bild vor. Wieder wird deutlich, dass Tobias Klich nicht nur vom Ohr aus denkt, sondern immer auch vom Auge: Platons Erzählung vom vierarmigen Wesen im »Symposium«, das sich später trennt, ist hier der Grundgedanke. Ein Tanz, in dem die Musik kontrapunktisch verläuft: trennen sich die Körper, vereinen sich die musikalischen Gedanken des Doppelwesens.

Ein weiteres Charakteristikum, sowohl der Bilder als auch der Musik von Tobias Klich, ist das, was fehlt – also das, was nicht zu hören oder zu sehen ist und trotzdem da ist. Besonders deutlich wird das in seinen drei Kompositionen zu Goyas bekanntem Zyklus »Los Caprichos«.

Im ersten Schritt konzentriert sich Klich lediglich auf die Hände der Figuren auf den 80 Blättern, die zwischen 1793 und 1799 entstanden sind. Viele Bilder sind so bekannt, dass wir sofort wissen, worum es sich handelt: Die Hände des vom Esel bestiegenen Mannes, die Hände der alten Frau, die sich die Nachtmütze richtet, die Hände des lesenden Esels, und natürlich die Hände jenes Mannes, der von Eulen und Nachtgespenstern umgeben ist und seinen Kopf hinter verschränkten Armen begräbt.

Was macht nun Tobias Klich? Er radiert die Bilder vollkommen aus, bis nur noch die Hände von Goyas Figuren zu sehen sind.

Sofort wird klar: Die Hände sind die treibende Kraft der Aktion dieser Bilder. Und Klich hat ein Gitarrenwerk komponiert, in dem er die einzelnen Handhaltungen in der Partitur notiert und den Spieler anweist, den Klangraum, den er auf dem Instrument schafft, durch seine Handhaltung zu ergänzen. So sehen wir Goyas Hände und hören in der Musik den fehlenden Rest der Bilder.

Diese Idee wird nun variiert, indem Tobias Klich die ganzen Figuren wegradiert und nur die Räume stehen lässt, Räume, die oft undefiniert sind, eher Stimmungen – und wieder ist es die Aufgabe der Musik, des Gitarrenspiels, die Figuren innerhalb dieser Räume wandeln zu lassen.

Ein kleines Detail noch: Auf einem Bild Goyas hält ein Affe eine Gitarre verkehrt herum. Ein Sinnbild für das Werk von Tobias Klich? Das Auf-den-Kopf-stellen des Bekannten, die Umfunktionierung etwas Alltäglichen zu etwas Neuem – die Verwirrung mit den Mitteln des Konventionellen.

Der Titel der Ausstellung »neben dem Ohr das Auge« stammt übrigens aus einem Aufsatz, den Robert Schumann 1835 für die Zeitschrift für Musik geschrieben hat. Es geht um die Frage, »in wie weit die Instrumentalmusik in der Darstellung von Gedanken und Begebenheiten gehen dürfe«. Schumann glaubt, dass jede Musik immer auch von zufälligen Einflüssen und Eindrücken motiviert ist: »Unbewusst neben der musikalischen Phantasie wirkt oft eine Idee fort, neben dem Ohr, das Auge, und dieses, das immer tätige Organ, hält dann mitten unter den Klängen und Tönen gewisse Umrisse fest, die sich mit der vorrückenden Musik zu deutlichen Gestalten verdichten und ausbilden können.«

Wo sind wir also, wenn wir Bilder von Tobias Klich sehen oder Musik von Tobias Klich hören? Ich glaube, es handelt sich um ähnliche Räume, um Räume nämlich, die letztlich Gedanken darstellen. Um Räume, die erst durch das, was nicht da ist, entstehen. Um Räume, in denen die Musik das erzählt, was dem Auge fehlt oder das Auge erkennt, was die Musik verschweigt. Räume, die allein mit dem Auge und dem Ohr entstehen können – und zwar nur dann, wenn beide miteinander verbunden werden, sich voneinander erzählen, um den »missing link« zu konstruieren: entweder durch unser Gehirn, durch unsere Gefühle, durch unseren Bauch oder durch unsere ureigenen Einflüsse und Eindrücke.

In diesem Moment kehren sich Außenräume zu Innenräumen um, wird das Definierte in Frage gestellt und das zu befragende definiert. Sicher ist in diesen Räumen nichts, denn alles ist abhängig von der Rekonstruktion des Gedankens durch den Betrachter und den Zuhörer.

Wo also sind wir, wenn wir die Werke von Tobias Klich betrachten? Irgendwo neben dem Ohr und dem Auge – mittendrin in einer verführerischen Welt, die sich uns in Bildern und Tönen öffnet, um sie zu erobern.

27. August 2017