Gedanken zur Klanginstallation »Palast der Lose des Lebens« von Tobias Klich
Ausstellung in der Markuskirche Hannover
Von Prof. Dr. Peter Rautmann
Einleitung
Wir sehen uns mit einer fundamentalen Klimakrise konfrontiert. Was können wir, jede und jeder einzelne, aber auch die Gesellschaft als ganze, für eine ökologische Erneuerung tun? Was angesichts der vielen Kriegsherde in der Welt, angefangen vom Krieg in der Ukraine, in Europa, tun? Die Vergangenheit ist uns verschlossen, in der Gegenwart dürfen wir nicht stehen bleiben, ist die Zukunft uns noch offen? Kann eine positive Gestaltung der Welt, unserer Welt gelingen? Wie wollen wir morgen leben?
In diesen herausfordernden Zusammenhang steht unsere aktuelle Ausstellung mit dem Titel „Das Erfinden von Welten“. Der Komponist Tobias Klich mit seiner Klanginstallation „Palast der Lose des Lebens“ schafft ein Werk, in dem nach unseren Vorstellungen vom Entstehen und Wahrnehmen von Welten gefragt wird. Jeder Mensch, jede Situation, jede Wahrnehmung erzeugt in jeder und jedem von uns beständig neue Verarbeitungen von Wirklichkeit. Es entstehen neue Aspekte, neue Überzeugungen, neue Erinnerungen. Das KlangKunstProjekt versucht mit Hilfe visueller Bilder, kreativer Teilhabe und Klangwelten diese ins Unendliche reichenden, komplexen Vorgänge aufzuzeigen und für uns erfahrbar zu machen. Neue Welten können entstehen. Dies gilt nochmal mehr, wenn wir selbst miterleben und Schnittstellen entdecken, die vom Komponisten und Künstler uns angeboten werden.
Tobias Klich greift eine Idee des Philosophen des Barock Gottfried Wilhelm Leibniz auf, der sich am Ende seiner Theodizee, seiner Schrift über die Rechtfertigung Gottes, 1710 erschienen, die Frage nach der „besten aller Welten“ und dabei auch die Frage nach dem freien Willen und der Verantwortung des Menschen in dieser Welt stellt.
Beschreibung
Die Klanginstallation steht während der Ausstellung in der Markuskirche Hannover in der Kapelle, um ihr einen ruhigen Ort zu geben, in dem die Besucher und Besucherinnen sich auf die Arbeit in ihrer visuellen wie akustischen Dimension konzentrieren können. Es handelt sich um eine gläserne, von innen leuchtende und klingende Pyramide. Ihre leuchtende Gestalt wird gesteigert durch die Abdunkelung des Raums. Auch im Dom zu Bremen – siehe Abbildung –, wo die Arbeit vor der Markuskirche zu sehen war, stand die Klangskulptur in der Ostkrypta des Doms, ein Raum mit nur wenig Tageslicht. Das Geheimnisvolle der Stele in Form einer schlanken, zwei Meter hohen Pyramide wird gesteigert durch unterschiedliche Klänge auf historischen Tasteninstrumenten, die auf jeder der fünf Seiten aus dem Inneren der Pyramide zu hören sind. Je nach Abstand von der Pyramide sind die Klänge einer Seite oder von mehreren Seiten gleichzeitig in Überlagerung zu hören.1
Auf jeder Seite der Pyramide steht jeweils eine Textpassage, die dem Ende der Theodizee von Leibniz entnommen ist. Dort entwirft Leibniz das Bild einer riesigen Pyramide, den „Palast der Lose des Lebens“, in dessen unendlich vielen Gemächern alle verschiedenen Lebenswege eines einzelnen Menschen existieren. Leibniz kleidet diese Geschichte in eine Erzählung aus der Antike, in der der Oberpriester Theodorus nach Athen zur Göttin Pallas reist, um von der Göttin Aufklärung über Jupiters Erschaffung der Welt zu erfahren. Dies wird ihm in einem Traum vermittelt. Die zweite Seite der Installation handelt von dem „Palast der Lose des Lebens“: „Er enthält Darstellungen nicht bloß von dem was geschieht, sondern auch von dem, was möglich ist. Jupiter hat dieselben vor dem Beginn der jetzigen Welt betrachtet, die möglichen Welten erwogen und die beste von allen ausgewählt.“ Theodorus wird in einzelne Gemächer geführt, die jeweils eigene Welten enthalten. „Die Gemächer erhoben sich übereinander in Pyramidenform; sie wurden immer schöner, je mehr man sich der Spitze näherte und enthielten Darstellungen immer schönerer Welten.“ (3. Seite) „In dem höchsten Gemach sah man die Pyramide sich einigen; es war das schönste von allen.“ (4. Seite) In den unendlich vielen möglichen Welten bildet die Spitze die wahre, wirkliche Welt „und du bist an der Quelle des Glücks. In diesem Augenblick erwachte Theodorus.“ (5. Seite)2
Bezug zu Gilles Deleuze
Tobias Klich zitiert in seinem Kommentar zu seiner Klanginstallation Leibniz’ Idee – „Jede dieser Kammern enthält eine eigene Welt, die nicht mit den anderen vereinbar ist“ – und schlägt als seine Schlussfolgerung vor: „Wie wäre es, sich diese möglichen Welten alle gleichzeitig vorzustellen und auf diese Weise fiktiv einen „Möglichkeitssinn“ zu öffnen für die Betrachtung der Wirklichkeit.“ Danach wäre nicht die eine Welt an der Spitze der Pyramide als beste aller Welten allein möglich, sondern eine Vielzahl von Möglichkeiten. Jede und jeder ist herausgefordert, sich diesen Wahlmöglichkeiten zu stellen. Aus der hierarchischen Pyramide wird eine unendliche, in ihren Wertigkeiten egalitäre Struktur mit einer unterschiedlichen Anzahl von Weltmöglichkeiten.
Bei dieser Neuformulierung kann sich Klich auf den zeitgenössischen französischen Philosophen Gilles Deleuze berufen. Dieser hat seinerseits in seiner Lektüre der Theodizee von Leibniz den Möglichkeitssinn, der nach ihm bereits in der Theodizee vorhanden sei, betont. Das hebt der deutsche Philosoph Joseph Vogl in einem Vortrag unter dem Titel „Was ist ein Ereignis?“ hervor. Der von Klich angesprochene Möglichkeitssinn wird von Deleuze in der Form vieler Ereignisse erfasst, wobei „das Ereignis von der Gesamtheit der Pyramide gestellt [wird], die für jedes Datum die Totalität seiner Verzweigungen bereithält.“3 Die Verzweigungen öffnen den Blick auf die Vielfalt an Möglichkeiten, denen wir uns konfrontiert sehen, als Chance und Herausforderung zugleich.
Bachs Matthäuspassion
Egalitär ist auch der Bezug zu den fünf Chorälen aus Bachs „Matthäuspassion“ als fünf Versionen des Chorals „O Haupt voll Blut und Wunden“. Sie kreisen alle um den Leidensweg und Tod Christi.4 Musikalisch handelt es sich um gleiche Melodien, die aber von Bach unterschiedlich harmonisiert wurden. In den Variationen über das Thema Leid und Tod gehen auch Erfahrungen ein, die der Autor der Texte, der Dichter des Barock Paul Gerhardt, angesichts des dreissigjährigen Kriegs gemacht hat. Gleichzeitig ist in ihnen der christliche Gedanke: an Leid, Tod Christi mit der Überwindung des Todes durch die Auferstehung verbunden. Allerdings hören wir nicht die gesungenen Choräle. Die Stimmen sind in der Klangpyramide ausgespart, nur als mögliche Erinnerung für die mit den Texten Vertrauten beim Hören der Klänge gegenwärtig. Es entsteht nach Tobias Klich „ein virtueller Raum mikrotonaler, inkompossibler Klangwelten.“5 Das bedeutet, die Klangwelten gehen nicht in ihrer Überlagerung harmonisch ineinander auf, ähnlich der von Leibniz beschriebenen Gemächer, die alle völlig divergierende Welten enthalten.
Mit dem Bezug auf die Passion Christi ist allgemein auch die Frage nach dem Bösen in der Welt und deren Rechtfertigung angesprochen, wie sie auch bei Leibniz aufgeworfen wird. Für ihn steht das Bild der Schöpfung „als beste aller Welten“ dazu nicht im Widerspruch. Bis heute trennt diese Frage angesichts von allgegenwärtigem Leid, Krieg und Gewalt die Menschen, wobei angesichts des gegenwärtigen Zeitalters des Anthropozäns, in dem die Menschen selbst die Welt zerstören können, die Frage eine besondere Brisanz erhält. In der Akzentuierung des Möglichkeitssinns der vielen Welten beinhaltet dies auch die Aufforderung, über die eigenen Beiträge zur Erhaltung der Welt nachzudenken.6
Reflexionen
Die verschiedenen Aspekte der Klanginstallation laufen in-, mit-, ja auch gegeneinander. Die Klangskulptur ist polyphon und fordert die Betrachterinnen und die Betrachter auf, zu dem Feld an Möglichkeiten, die in ihr integriert sind, sich zu verhalten. Als visuelle Gestalt sehen wir eine Pyramide, die dem Gedanken von Leibniz als einer optimalen Wirklichkeit der Welt Ausdruck gibt. Gleichzeitig entwickelt schon Leibniz die Vorstellung einer sich unendlich fortsetzenden Anzahl an möglichen Weltentwürfen, denen Tobias Klich eine entscheidende Rolle überträgt. Wir können auf den fünf Seiten der Pyramide die Texte aus der Theodizee lesen und gleichzeitig die Klänge der fünf Instrumente hören. Wir erfahren aber auch, dass sich die Überlappungen der einzelnen Klangwelten nicht in Harmonie auflösen, vielmehr zu Diskrepanzen im Hörerleben führen, ähnlich wie die Gemächer mit ihren individuellen Weltmöglichkeiten. Die sinnlich audio-visuelle Erscheinung der Klangskulptur trifft dabei auf philosophische Theorie, das Erleben auf räsonierende Argumentation. Prosa und Poesie treten in Wechselwirkung. Eine gedankliche und musikalisch-künstlerische Welt tritt in Wettstreit und ist zugleich eine ineinander greifende widersprüchliche Einheit.
Gedanken und musikalische Komposition, die in der Vergangenheit konzipiert wurden, sollen für die Gegenwart und damit auch für die Zukunft aufgeschlossen, sogar neu gelesen und rezipiert werden. Die Idee der „besten aller Welten“ trifft auf die Aktualität des Bösen, der Gewalt und fordert uns auf, damit umzugehen, Stellung zu beziehen. Die christliche Botschaft, dass der Tod nicht das letzte Wort behält, erklingt in einer pluralen, säkularen Welt – was sagt sie den Hörenden? Der Gang durch die Räume des „Palastes der Lose des Lebens“ ist eine Traumreise in das Innere der Sehenden, Hörenden, Erlebenden. Von den Chören hören wir nur die Melodien in ihren jeweiligen Harmonisierungen und Überlagerungen. Angesichts all dieser unterschiedlichen Momente und auch Verfremdungen sind wir aufgefordert, nachzudenken, wie die Welt, die Welten für uns aussehen, klingen könnten, sollten. Im Dunkeln des Kapellenraums leuchtet geheimnisvoll die Klangpyramide. Die Kapelle ist ein Raum der Stille, der einlädt, den vielen Fragen und Aspekten der Klanginstallation nachzugehen, sie auf sich wirken zu lassen und das Zusammentreffen der Möglichkeiten als kostbares Ereignis für den aktuellen Moment zu erleben.
Anmerkungen
1 Bei der Abfassung des vorliegenden Textes hat mich Tobias Klich mit vielen mündlichen und schriftlichen Informationen unterstützt. Hierfür danke ich ihm. Siehe auch seine Webseite: https://tobiasklich.com/palast-der-lose-des-lebens/
2 Siehe im Anhang den vollständigen Text der fünf Seiten aus der Theodizee-Ausgabe von: Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee. Übersetzt von J. H. von Kirchmann, Leipzig, Dürr 1879 (Philosophische Bibliothek, Bd. 71).
3 Joseph Vogl, Was ist ein Ereignis?, siehe: https://zkm.de/de/media/audio/joseph-vogl-was-ist-ein-ereignis/. Vogl bezieht sich auf Deleuze, Untersuchungen 1972–1990, Frankfurt/M. 1993; ders., Differenz und Wiederholung, München 1992.
4 Die vollständigen Texte der Choräle von Paul Gerhardt siehe im Anhang.
5 Zur Webseite von Tobias Klich siehe Anm. 1.
6 Leibniz stellt sich diesen Fragen selbst, denn die Erzählung beginnt eine Stufe früher als die Reise des Theodorus und zwar mit der Anrufung des Orakels von Delphi durch Sextus Tarquinius, der ein vernichtendes Urteil über sein zukünftiges Leben erhält. Die Möglichkeiten, einen anderen Lebensweg zu bestreiten und damit seinem Schicksal zu entgehen, verneint Tarquinius jedoch. Diese Seite der Erzählung mit den Fragen, Bedingungen und Möglichkeiten, bestimmte Lebensentwürfe zu entfalten, würde allerdings die hier vorgenommene Skizzierung der Schwerpunkte der Klanginstallation überschreiten.
Der Text erschien zur Ausstellung »Das Erfinden von Welten« in der Markuskirche Hannover, 14.05.–25.06.2023. Kuratorinnen: Peter Rautmann und Anne Kehrbaum.