Palast der Lose des Lebens

Klanginstallation im Dialog mit Leibniz, Deleuze und Bachs Matthäuspassion (2022)

Leibniz entwirft am Ende seiner »Theodizee« das Bild einer riesigen Pyramide, den »Palast der Lose des Lebens«, in dessen unendlich vielen Gemächern alle verschiedenen möglichen Lebenswege eines einzelnen Menschen parallel existieren. Jede dieser Kammern enthält eine eigene Welt, die nicht mit den anderen vereinbar ist. Wie wäre es, sich diese möglichen Welten alle gleichzeitig vorzustellen und auf diese Weise einen »Möglichkeitssinn« zu öffnen für die Betrachtung der Wirklichkeit?

Bei der mehrkanaligen Klanginstallation in Form einer fünfseitigen gläsernen Pyramide mit Körperschallwandlern sind die fünf Versionen des Chorals »O Haupt voll Blut und Wunden« aus Bachs »Matthäuspassion« zu hören. Gespielt auf fünf historischen Tasteninstrumenten in verschiedenen Stimmungssystemen überlagern sie sich gleichzeitig und lassen einen virtuellen Raum mikrotonaler, inkompossibler Klangwelten erfahrbar werden. Die Aufnahmen entstanden in Zusammenarbeit mit Eudald Dantí Roura an einem Clavichord, zwei Cembali sowie zwei Hammerklavieren.

Klosterkirche Bursfelde

St. Petri Dom Bremen, Ostkrypta

Markuskirche Hannover

Auszug aus: Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee

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Theodorus reiste nach Athen; man verordnete ihm, in dem Tempel der Göttin Pallas zu schlafen. Im Traume sah er sich in ein unbekanntes Land versetzt, wo ein Palast von unbegreiflichem Glanz und einer ungeheuren Größe stand. Die Göttin erschien an der Türe umgeben von den Strahlen einer glänzenden Majestät. Sie berührte das Gesicht des Theodorus mit einem Olivenzweig, den sie in der Hand hielt. Damit war er im Stande den göttlichen Glanz der Tochter des Jupiter und von allem, was sie ihm zeigen würde, zu ertragen.

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Du siehst hier den Palast der Lose des Lebens. Er enthält Darstellungen nicht bloß von dem was geschieht, sondern auch von allem, was möglich ist. Jupiter hat dieselben vor dem Beginn der jetzigen Welt betrachtet, die möglichen Welten erwogen und die beste von allen ausgewählt. Er besucht manchmal diesen Ort, um in der Zurückrufung der Dinge und an der Erneuerung seiner Wahl sich zu erfreuen. So kannst Du Dir eine Reihe von Welten vorstellen, welche alle und zwar ausschließlich den selben Fall enthalten, dessen Umstände und Folgen danach sich aber verschieden gestalten. Diese Welten sind alle hier, das heißt, als bloß vorgestellte. Ich werde Dir welche davon zeigen.

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Darauf führte die Göttin den Theodorus in eins der Gemächer; als er darin war, war es nicht mehr ein Gemach, sondern eine Welt. In dem Gemach lag ein großer Band von Schriften und Theodorus fragte, was dies bedeute. Es ist die Geschichte dieser Welt, die wir jetzt vor uns sehen, sagte die Göttin; es ist das Buch ihrer Schicksale. Man ging nun in ein anderes Gemach, und siehe, da war eine andere Welt. Man ging dann noch in weitere Gemächer, wo immer neue Szenen gesehen wurden. Die Gemächer erhoben sich übereinander in Pyramidenform; sie wurden immer schöner, je mehr man sich der Spitze näherte und enthielten Darstellungen immer schönerer Welten.

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In dem höchsten Gemach sah man die Pyramide sich endigen; es war das schönste von allen; denn die Pyramide hatte zwar einen Anfang, aber das Ende sah man nicht; sie hatte eine Spitze, aber keine Basis, vielmehr wuchs sie nach unten ins Endlose. Dies kam, wie die Göttin erklärte, davon, daß es eine beste Welt unter allen gibt, sonst würde Gott sich nicht entschlossen haben, überhaupt eine zu erschaffen; aber von jeder gab es noch eine weniger vollkommene unter ihr und deshalb ging die Pyramide nach unten ohne Ende fort.

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Als Theodorus in das höchste Gemach eintrat, geriet er in Entzücken; die Göttin musste ihm beistehen und erst ein Tropfen eines göttlichen Saftes, auf die Zunge gebracht, ließ ihn wieder zu sich selbst kommen. Er konnte sich vor Freude nicht lassen. Wir sind, sagte die Göttin, in der wahren, wirklichen Welt und Du bist an der Quelle des Glücks.

In diesem Augenblick erwachte Theodorus.

Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee.
Übersetzt von J. H. von Kirchmann, Leipzig: Dürr, 1879
(Philosophische Bibliothek, Bd. 71)

Texte von Paul Gerhardt (1653/56) zu den fünf Chorälen aus Bachs Matthäus-Passion

Melodie: Hans Leo Hassler: Mein Gmüth ist mir verwirret, 1601

Nr. 15

Erkenne mich, mein Hüter,
Mein Hirte, nimm mich an!
Von dir, Quell aller Güter,
Ist mir viel Guts getan.
Dein Mund hat mich gelabet
Mit Milch und süßer Kost,
Dein Geist hat mich begabet
Mit mancher Himmelslust.

Nr. 17

Ich will hier bei dir stehen;
Verachte mich doch nicht!
Von dir will ich nicht gehen,
Wenn dir dein Herze bricht.
Wenn dein Herz wird erblassen
Im letzten Todesstoß,
Alsdenn will ich dich fassen
In meinen Arm und Schoß.

Nr. 44

Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da dein Fuß gehen kann.

Nr. 54

O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Schmerz und voller Hohn,
O Haupt, zu Spott gebunden
Mit einer Dornenkron,
O Haupt, sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr und Zier,
Jetzt aber hoch schimpfieret,
Gegrüßet seist du mir!

Du edles Angesichte,
Dafür sonst schrickt und scheut
Das große Weltgerichte,
Wie bist du so bespeit;
Wie bist du so erbleichet!
Wer hat dein Augenlicht,
Dem sonst kein Licht nicht gleichet,
So schändlich zugericht‘?

Nr. 62

Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir,
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du denn herfür!
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein!

Ausstellungen

16.05.–06.06.2022 | Klosterkirche Bursfelde
12.06.2022 | Plantage 13 Bremen
23.02.–31.03.2023 | St. Petri Dom Bremen, Ostkrypta
14.05.–25.06.2023 | Markuskirche Hannover

Auftragswerk von VISION KIRCHENMUSIK für die Weserfestspiele 2022
Gefördert durch ein Stipendium der GEMA im Rahmen von NEUSTART KULTUR und durch die Waldemar Koch Stiftung

Einführung von Prof. Dr. Peter Rautmann zur Ausstellung »Das Erfinden von Welten« in der Markuskirche Hannover

Version als Konzertinstallation: mein Gmüth ist mir verwirret