Dialoge mit dem (Un-)Sichtbaren

Der Komponist, Gitarrist und Filmemacher Tobias Klich
erkundet die verborgenen Zusammenhänge von Bild und Klang
Von Dirk Wieschollek

„Ich habe immer einen Abscheu davor gehabt, Musik mit geschlossenen Augen zu hören, also ohne dass das Auge aktiv teilnimmt. Wenn man Musik in ihrem vollen Umfange begreifen will, ist es notwendig, auch die Gesten und Bewegungen des menschlichen Körpers zu sehen, durch den sie hervorgebracht wird.“i Schon Igor Strawinsky wies bemerkenswert früh darauf hin, dass eine musikalische Aufführung weit mehr ist als eine Sache des Hörsinnes. Nach den radikalen künstlerischen Manifestationen „Sichtbarer Musik“, die sich in den 1960er- und 1970er-Jahren vor allem in den klangexperimentellen Laboratorien Dieter Schnebels und Mauricio Kagels entwickelten, fiel das Visuelle in der Musik jedoch erst einmal in einen Jahrzehnte währenden Tiefschlaf.ii Ein gutes halbes Jahrhundert später zeigt sich ein anderes Bild. Im Zuge einer verstärkten Semantisierung und Kontextualisierung des Metiers Komposition knüpft eine jüngere Komponist*innengeneration wieder an Traditionen an, die Musik im Kontext ihrer Entstehungsbedingungen betrachtet und sich der nie ausblendbaren Theatralik und Visualität von Klangerzeugung künstlerisch versichert.

Einer der Komponist*innen, die dies mit akribischer Unaufgeregtheit tun, ist Tobias Klich. Als Komponist, Gitarrist, Filmemacher und Bildender Künstler ist er auf diversen künstlerischen Produktionsfeldern aktiv. Hinter der Kamera hat er in Musikfilmen eigene und fremde Werke (von Farzia Fallah, CHEN Chengwen, Younghi Pagh-Paan u. a.) in Szene gesetzt, mit „Heimat in sechs Richtungen“ (2017) einen Dokumentarfilm über zeitgenössische iranische Komponist*innen gedreht. Aber auch auf dem Feld des Kompositorischen, und dies ist besonders signifikant im Falle von Tobias Klich, verbinden sich klangliche, szenische und filmische Elemente im einzelnen Werk zum vielschichtigen Ausdrucksfeld. Drei grundlegende Aspekte bilden in seinen Stücken eine oft untrennbare Einheit: Der Wille zu einer komplexen Ausdifferenzierung klanglicher Physiognomien, das visuelle Potential der Klangartikulation sowie die Bezugnahme auf außermusikalische Inspirationsfelder aus Kunst, Literatur und Philosophie. Der „Dialog mit …“ anderen Disziplinen ist ein wesentlicher Bestandteil von Klichs ästhetischem Ansatz, der in fast allen Kompositionen dieser Produktion im Untertitel namhaft gemacht wird. Die klangliche Zwiesprache mit bereits existierenden künstlerischen oder geistesgeschichtlichen Stoffen soll dabei Räume öffnen, die als etwas Drittes ganz neue, eigene Wahrnehmungsfelder aufschließen.

Ungezählt sind die musikalischen Werke, die auf Erzeugnisse der Bildenden Kunst, insbesondere der Malerei, zurückgehen. Dass jedoch eine Komposition Bezug nimmt auf einen Vertreter der Performance-Art dürfte seltener vorkommen. Besonders interessant wird die hier zur Diskussion stehende Beziehung dadurch, dass der Anknüpfungspunkt eine musikalische Darbietung ist: Bruce Naumans Violin tuned D.E.A.D. (1968) besteht aus der ca. einstündigen Wiederholung des immer gleichen Akkordes auf den umgestimmten Leersaiten (D-E-A-D) einer Violine; die musikalische Statik entspricht im Video der bildlichen, die den Spieler (Nauman selbst) praktisch unbeweglich von hinten vor grauem Hintergrund zeigt. An der radikal reduktiven Vorlage hat Klich die unmittelbar physische Ansprache besonders fasziniert: „2018 habe ich das erste Mal selbst in einem Konzert eine Re-Performance von Violin tuned D.E.A.D. realisiert und ich war schockiert, wie extrem körperlich diese Erfahrung für mich wurde. Nach einiger Zeit habe ich die Vibration jedes Nachklangs als Beben in meinem eigenen Körper gespürt, als wäre ich verschmolzen mit der Geige, als wäre ich selbst der Resonanzkörper. Mit dieser Intensität hatte ich nicht gerechnet.“iii Lange vorher reifte jedoch die Idee, auf die eindringlichen Wahrnehmungsaspekte der Nauman-Installation künstlerisch zu reagieren: Klichs Die Wiederaufnahme der Zeit (2005-06/2015; 2018-19) ist eine erweiterte ‚Re-Komposition’ von Naumans minimalistischer Video-Installation, also eine Performance über eine Performance, wenn man so will. Zum Playback der starr durchlaufenden, unveränderlichen Akkorde der Nauman-Performance belebt die Live-Violine Klichs (ebenfalls auf D-E-A-D gestimmt) das starre Akkordgerüst mit verschiedenen expressiven Repetitions-Modulen, die sich im Laufe der Interaktion unterschiedlich mischen und quasi kontrapunktisch in die Video-Violine einhaken. Auch sie kommen dabei bei aller Expressivität aus einer gewissen Statik und Floskelhaftigkeit nicht heraus: sanft tickende Ostinati, aufwärtsjagende Tremolo-Figuren, schroffe Doppelgriffe, Pulsierungen unterschiedlichster Pizzicato-Arten, mikrotonale Glissando-Bänder, chromatische Wellenbewegungen „am Steg“ bilden das markante Klang-Inventar. 126 Takte dauert es, bis die Live-Stimme die Akkorde der Zuspielung aufgreift, sie dabei aber chromatisch und mikrotonal ausfranst und allmählich wieder verlässt. Im Schlussabschnitt gibt es nur noch Oberton-Echos und flirrende Flageolett-Tremoli als Reaktion auf die Zuspiel-Akkorde, die plötzlich verstummen, bevor auch die Live-Violine sich mehr und mehr (erst am Steg, dann auf der Zarge) in ein tonloses Rauschen auflöst.

Für die Live-Aufführung des Stücks gibt Klich zwei Möglichkeiten vor: Entweder wird das Nauman-Video vom Interpreten des Soloparts nachgestellt und visuell zugespielt. Oder es kann alternativ eine Audiozuspielung verwendet werden, die aus einer auf der Bühne platzierten „skulpturalen“ Violine ertönt, an die ein Körperschalllautsprecher montiert wurde. Der Solist befindet sich also nicht nur im Dialog mit Nauman, sondern auch im Dialog mit sich selbst! Wie sehr Tobias Klich das Medium Film als eigenständige künstlerische Sphäre seiner Arbeit versteht, unterstreicht die Tatsache, dass er für diese Veröffentlichung in Zusammenarbeit mit dem Filmemacher James Chan-A-Sue (sie betrifft alle Filme auf der DVD) eine eigene filmische Interpretation hergestellt hat (2018-19). Sie beginnt mit der grauen Trostlosigkeit leerer Korridore, führt in Räume von gleißend heller Leere, in der die Solostimme in unterschiedlichen Erregungs-Graden umhergeistert, bevor relativ spät die Interpretin sichtbar wird. Plötzlich ein Zeitsprung: Die existentielle Leere eines abstrakten, „inneren Labyrinthes“ hat sich im „Nicht-mehr-identisch-sein mit sich selbst“ gewandelt zu einem Zustand, der „die Überwindung des Stillstands, die Wiederaufnahme der Zeit“ (Klich) ermöglicht. Die Kamera schwenkt langsam auf den Bauch einer nun schwangeren Interpretin, die diesen mit den Händen sanft umfasst.

Regelmäßig stehen bei Tobias Klich die Hände als elementare Hervorbringer künstlerischer Wirklichkeit im Fokus. Bereits im Gitarrenstück Grüntrübe Ritornelle beim Verlassen des Territoriums (2009-11; 2018-20) soll die Wahrnehmung ganz auf die Hände gelenkt werden, indem der Spieler möglichst dunkel gekleidet sich im schwarzen Bühnenraum verliert und die Beleuchtung sich auf die Aktivitäten der Hände fokussiert. Als „Choreographie für zwei Hände, die das Territorium einer Gitarre erkunden“ bezeichnete Klich das Wesen des Stücks und ruft damit Traditionen des „instrumentalen Theaters“ auf den Plan. Dessen „Bühne“ beschränkt sich hier allerdings auf die Spielfläche der Gitarre, die mit Kapodaster und Esslöffeln, die zwischen die Saiten geschoben sind, in fünf klanglich autarke Bereiche unterteilt ist. Diese sind aber nicht starr, sondern werden im Laufe der Komposition durch Verschiebungen in ihren Grenzen modifiziert. So entsteht eine Polyphonie der Gesten, Aktionen und Klangfarben (in ständigem Überkreuzen der Hände), die manchmal anmutet, als seien hier zwei Spieler am Werk. Der heterophone Klangeindruck wird aber noch weiter differenziert in der räumlichen Ausrichtung der Komposition: jeder Klangbereich wird mit einem eigenen Kontaktmikrophon abgenommen und mit acht um das Publikum herum verteilten Lautsprechern in den Raum projiziert. Dass die Gitarre das angestammte Instrument von Tobias Klich ist, lässt sich an einer hochdifferenzierten Ausformulierung der Klangtechniken beobachten, die die Gitarre hier als vielfach „gespaltene Persönlichkeit“ erscheinen lässt. Im Rahmen eines dramaturgisch grundlegenden Wechsels von Aktion und Stille, wo in Generalpausen der Spieler mehrfach in Bewegungslosigkeit erstarrt, entwirft Klich eine feingliedrige Klanglandschaft aus obertonreichen, perkussiven und geräuschintensiven Artikulationen, die mit dem gewohnten Gitarrenklang nur noch bedingt zu tun haben. Gerade ihr oft hybrider Charakter aus Tongebung und Geräuschklang macht ihr spezielles und relativ unberechenbares Wesen aus. Klich versteht den Begriff des „Ritornells“ nicht nur im Sinne der formalen Wiederkehr prägnanter Klangbausteine, die eine Art Orientierung in der Nicht-Identität des zergliederten Klangkörpers schaffen. „Ritornell“ meint hier auch im Sinne von Deleuze/Guattariiv einen Ort des „Zwischen“, der sich an der Schwelle von Ordnung und Chaos befindet. Klangliche Mischwesen also, die Auflösung und Gestaltbildung, ein „nicht mehr“ und ein „noch nicht“ gleichermaßen verkörpern und aus der Freiheit, das angestammte „Territorium“ zu verlassen, ihre besondere expressive Aura entfalten.

Auch im Goya-Triptychon (2013-20; 2018-21) stehen multiple Hände im Blickpunkt des Geschehens, die mit ikonografischer Bedeutung aufgeladen sind. Die „musikalisch-szenische Komposition“ bezieht sich in drei ganz verschieden besetzten Teilen auf Francisco de Goyas berühmten gesellschaftskritischen Radierungen-Zyklus „Los Caprichos“ (1793-99).v Die Stücke des Triptychons können einzeln oder als Ganzes aufgeführt werden, in allen sind Videoprojektionen und Regieanweisungen für die Gestik und Mimik der Interpret*innen enthalten. Die Musiker*innen spielen hinter einer Gaze, auf der das Video projiziert wird und sind (komplett schwarz gekleidet) vor allem in Gestalt ihrer Hände und Köpfe wahrzunehmen. Die dargestellten Gesten beziehen sich dabei auf konkrete Bildelemente ausgewählter Goya-Radierungen und sollen „möglichst organisch in die Spielgestik integriert werden“. Auch die Projektionen bestehen aus fragmentarisierten Bild-Ausschnitten der Radierungen, die genauestens mit der Musik und den Bewegungen der Spieler*innen synchronisiert sind, wodurch beide Wahrnehmungsebenen gelegentlich bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschmelzen:

In Goyas Hände für Gitarre und Video (2013) sind es ausschließlich Bildfragmente mit Darstellungen von Händen und Armen, die in das Spiel des Sologitarristen geblendet oder von diesem nachgestellt werden. In Goyas Räume für Gitarre, Schlagzeug, Trompete, Kontrabass und Video (2015) werden die Musiker*innen zu „Tableaux vivants“ diverser Caprichos.vi Einige Bildelemente ausgewählter Radierungen finden zudem als konkrete Requisiten Verwendung.vii Goyas Stimmen für Stimme, Trompete, Schlagzeug und Video (2020) schließlich stellt auf der Projektionsebene das menschliche Gesicht in der Extrahierung zahlreicher „Köpfe“ aus Goyas Bildinventar in den Vordergrund.

Es mag auf den ersten Blick redundant erscheinen, Inhalte aus einem der berühmtesten Werke der Druckgraphik und seiner dämonisch verzerrten Wirklichkeitsschau szenisch-klanglich „verdoppeln“ zu wollen. Aber so einfach liegt die Sache bei Klichs Goya-Triptychon nicht. In seiner Mischung aus Abstraktion und Adaption einer semantisch aufgeladenen Bildrealität entsteht auch hier ein offener Zwischenraum aus Klang und Bild, der eine ganz eigene Poetik entwickelt, weil dessen ikonografische „Hintergründe“ in der Fragmentierung suggestiver Gesten oder „Leerer Räume“ oft bewusst im Unklaren bleiben. Zumal der Anspielungsreichtum von Goyas Radierungen bis heute nicht zweifelsfrei entschlüsselt ist. Und genau hier setzt Tobias Klich an: „Für mich selbst beim Komponieren, v. a. bei Goyas Stimmen, war inspirierend mit diesen rätselhaften Bildsituationen eine übergeordnete Handlung, die zwischen den einzelnen Bildern bei Goya so nicht existiert, frei zu konstruieren – eine Handlung, die sich zwar körperlich sehr konkret äußert, inhaltlich aber auch eher wie in einem Traum schwer in Worten zu beschreiben ist – gerade das macht für mich auch das Unheimliche dieser Bilder aus.“

Eine enge Zusammenarbeit verbindet Tobias Klich mit dem Komponisten und Klangkünstler CHEN Chengwen, der in Klichs Stücken regelmäßig für Klangregie und Videozuspiel verantwortlich zeichnet. In 4 Hände (2016-20) haben sie auch kompositorisch eng zusammengearbeitet, man könnte auch sagen in wirklich taktilem Kontakt mit den jeweiligen Instrumenten. Diesmal ist es kein Werk der bildenden Kunst, das der außermusikalische Anknüpfungspunkt der Komposition ist, sondern mit Platons „Symposion“ ein philosophischer Text – und wieder stehen die Hände im Blickpunkt. Die „szenische Komposition“ für Gitarre, Violoncello, Akkordeon und eine Stimme ist darauf angelegt, das Spiel eines Soloinstrumentes praktisch zu verdoppeln. Hinter dem Solisten sitzt (kaum sichtbar) ein weiterer Spieler und agiert ebenfalls mit den Händen am Instrument, so dass der Eindruck entsteht, ein vierarmiges Wesen wäre für die Klangproduktion verantwortlich. Tobias Klich über die Idee des Zyklus’: „Bei all den vierhändigen Stücken ging es uns darum, in der Komposition immer wieder zu Momenten zu gelangen, die wirklich nur zu zweit mit vier Händen auf einem Instrument zu realisieren sind und sonst in keiner anderen Weise. Genauso war auch unser Komponieren ein Prozess, der sich in dieser Art nur gemeinsam zwischen uns beiden entfalten konnte, ein vierhändiges Ineinanderwirken ohne klar abgegrenzte Zuständigkeitsbereiche – so wie die Stücke jetzt auch geworden sind: Wenn man sie sieht, weiß man manchmal nicht mehr, welche Hand zu wem gehört, wer für was genau verantwortlich ist.“

In den zugrunde liegenden Reflexionen Platons (in der Rede des Aristophanes) geht es grob formuliert um die Spaltung der ursprünglichen menschlichen Natur als Gestalt vierarmiger Kugelwesen, die ehemals in drei Geschlechtern existierten (männlich, weiblich und androgyn) und die daraus resultierende Sehnsucht nach Wiedervereinigung der drei jeweils getrennten Geschlechterhälften, die letztenendes das Prinzip der Liebe begründet. Vier ‚Solostücke’ für Gitarre, Violoncello, Akkordeon und Stimme loten in 4 Hände verschiedene Prozesse und Zustände der Annäherung und Distanzierung, Trennung und Verschmelzung aus, wo auf engstem Spiel-Raum zwei Wesenheiten als klangliche Einheit interagieren müssen. Dabei kommen sie sich in ständiger Kreuzung der Arme und Hände beim Greifen, Anschlagen und Halten der Instrumente zwangsläufig durch ständige Berührung auch körperlich näher. Ähnliche Dualismen mit den dazugehörigen Abstoßungs- und Verbindungsprozessen laufen auch auf der Ebene der kompositorischen Erfindung/klanglichen Gestaltung ab, wo aus einem relativ abstrakten und „unpersönlichen“ Ausgangsmaterial vielfache Variationen und Permutationen entstehen.

In der Musik für Gitarre zu vier Händen (2016) werden die grundlegenden musikalischen Bausteine, Klanggesten und dramaturgischen Abläufe des Zyklus’ expositionsartig präsentiert: chromatische und mikrotonale Skalenbewegungen wechseln mit obertonreichen Akkorden und Flächen aus rhythmischen Ostinati, Trillern und Tremoli, die oft in zirzensisch austarierter Verschränkung beider Akteure entwickelt werden. Bei aller dazu notwendigen Geschicklichkeit, die die Feinjustierung am Gitarrenkorpus augenscheinlich mit sich bringt, hat das vierarmige Spiel jedoch nie etwas vordergründig Akrobatisches an sich, das auf den virtuosen musikalischen Effekt aus wäre. Dafür erscheint das Klangmaterial an sich zu lakonisch und (zumindest an der Oberfläche) entsubjektiviert. Erneut erstarrt auch hier das musikalische Geschehen gelegentlich zur reinen Pantomime, wenn Spielpositionen plötzlich eingefroren werden oder bestimmte Gesten spielerisch auf die Janusköpfigkeit der Situation verweisen.viii Gegen Ende des Stücks allerdings geben sich die Spieler als unterschiedliche Wesen zu erkennen, indem Kopf und Körper des hinteren Spielers sich erkennbar zur Seite schieben. Die bei Platon beschriebene Spaltung wird kurzzeitig sichtbar und auf der Bühne untermauert im Blick des Gegenübers.

Ähnliche Abläufe wie im Gitarrenstück werden in der Musik für Violoncello zu vier Händen (2017-19) hörbar und sichtbar. Auch hier verschmelzen zwei Körper zu einer kaum trennbaren wesenhaften Einheit, deren Klang- und Bewegungsdramaturgie genauestens aufeinander bezogen ist, wobei das Körperliche hier noch suggestiver erscheint, ist das Cello doch ein immens körpernahes und körpergleiches Instrument. Die musikalischen Gesten sind ähnlich abstrakt und versagen sich auch auf dem Violoncello eines melodiös-elegischen Spiels, auch wenn es in Platons Textpassage, die dem Stück (als „Prolog II“) voransteht, um nichts weniger als die „Liebe“ in Gestalt der Sehnsucht nach der verlorenen Identität geht. Dass die Berührungs-Aspekte der Arm-Choreographie hier geradezu „zärtliche“ Momente entwickeln können, zeigt sich spätestens im sanften Rauschen des gemeinsamen Streichens entlang der Saiten mit den Handflächen. Auch das häufige gegenseitige Anreichen und Austauschen der Bögen verkörpert etwas dezidiert Zwischenmenschliches. Szenisch wird es aber noch bildhafter: plötzlich holt das erste Cello einen zweiten Bogen hinter dem Rücken hervor und simuliert damit den Abschuss eines Pfeiles. Nachdem der Pfeil Amors abgeschossen wurde, verschmelzen die Stimmen zu einer fünftönigen, mikrotonal harmonisierten Melodie, die an dramaturgisch prägnanten Stellen leitmotivisch in allen Stücken des Zyklus’ auftaucht. Am Ende vollzieht sich wie im Gitarrenstück die „Körperspaltung“ im Erkennen eines Anderen.

In der Musik für Akkordeon zu vier Händen (und eine weitere Stimme) (2019-20) werden die zuvor erprobten Differenzierungs- und Verschmelzungsprozesse auf engem Raum noch weiter verkompliziert, auch dadurch, dass das Akkordeon selbst ein „Doppelwesen“ aus Bass- und Diskantseite ist. Musikalisch und gestisch zeigt sich das Stück noch expressiver und unruhiger als die beiden Vorgänger, mit vielen geräuschhaft-perkussiven Aktionen. Später dominieren dissonante Klangflächen, wo „Differenztöne, die zwischen einem gehaltenen Ton und einer linearen chromatischen Skala entstehen“, besondere Bedeutung erhalten. Irgendwann mischt sich eine 3. Stimme in Gestalt einer Melodica praktisch unbemerkt in die Frequenzen des Akkordeons hinein. Sie gibt sich aber erst nach der bekannten „Spaltung“ des Klangkörpers auch visuell zu erkennen und gesellt sich zwischen die beiden Akkordeon-Spieler zu einem Trio, das am Ende in irisierenden Harmonien über die zuvor entwickelte fünfttönige Melodie zum dreistimmigen Choral harmonisch verschmilzt. Eine Umarmungsgeste der Melodica-Stimme besiegelt die neu gebildete Einheit. Doch damit ist 4 Hände noch nicht zu Ende. Als eine Art Epilog bringt die Musik für Stimme (2020) den Zyklus zu einem überraschend solistischen Abschluss. Die Melodica-Spielerin hat sich in eine Sopranistin verwandelt und gibt (längere Zeit mit geschlossenen Augen und nur allmählich öffnendem Mund) Summtöne und Vokalisen im Wechsel mit gepfiffenen Passagen zum Besten. Dabei werden grundlegende Elemente der vorigen Stücke aufgegriffen (z. B. Skalenbewegungen oder am Ende die fünftönige Melodie als Mischform aus Singen und Pfeifen) und bewegen sich oft Takt für Takt kontrastiv zwischen Mikrotonalität und konventioneller Tongebung sowie extremen Registersprüngen hin- und her. Auch hier also, im individuellen Körper, der sich mitteilt, begegnet ein Dualismus der Äußerungen und Ausdruckscharaktere, der mit festgefügter Identität wenig zu tun hat. Wer aber ist diese Stimme? Was verkörpert sie? Den androgynen Ursprung des Menschseins, von dem Platon ausging? Oder eben genau das (um mit Platon zu sprechen) „was sie nicht zu sagen vermag, sondern nur ahnend zu empfinden und in Rätseln anzudeuten“ in der Lage ist? So wie die visuellen Kompositionen von Tobias Klich, die an scheinbar Bekanntes und Prägnantes andocken, um den berüchtigten Rätselcharakter von Kunst nur umsomehr zu vergrößern. Das kann bekanntlich vor allem die Musik und eine Musik mit Bildern erst recht …

i Igor Strawinsky: Erinnerungen, Zürich und Berlin 1937, S. 93.

ii Es erscheint rückblickend wie eine Ironie der Geschichte, dass zur ersten Blütezeit des Videos in Popkultur und Kunst die „Neue Musik“ – neu berauscht von den expressiven Traditionen von Spätromantik und früher Moderne – sich der Integration visueller Sprachformen weitestgehend verweigerte.

iii Alle im Text zitierten Äußerungen des Komponisten entstammen E-Mails an den Autor, Juni 2021.

iv Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1837 – Zum Ritornell“, in: Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 423ff.

v Er fand schon öfter kompositorische Aufmerksamkeit, zum Beispiel in Mario Catselnuovo-Tedescos 24 Caprichos de Goya (1961) oder Hans Werner Henzes Los Caprichos, Fantasia per Orchestra (1963).

vi Dort wird mit der Darstellung von „Brabisimo“ (Nr. 38) auch die Aufführungssituation selbst in doppelter Brechung ironisiert: Ein gitarrenspielender Affe spielt einer aufmerksamen Zuhörerschaft aus einem Esel und zwei menschlichen Figuren vor, Karikatur einer höfischen Musikdarbietung.

vii Zum Beispiel wird die Kontrabassstimme irgendwann „abgeschnitten“ mit der Schere aus dem Capricho Nr. 51 „Se repulen“ [Sie putzen sich heraus]. Später kommt ein Blasebalg zum Einsatz, der das besonders abgründige Capricho Nr. 69 „Sopla“ [Windstoß] zitiert, in dem nackte Männer einen Kinderkörper als Blasebalg benutzen.

viii Wenn z. B. der rechte Arm von Gitarrist 1 und der linke Arm von Gitarrist 2 langsam nach Außen gestreckt werden, als wäre es die öffnende Geste eines einheitlichen Körpers.