grüntrübe Ritornelle beim Verlassen des Territoriums

für präparierte, verstärkte Gitarre und Klangregie (2009–11), 15 Min.

Das Ritornell bezeichnet die Wiederkehr eines Motivs, das instrumentale Zwischen-, Vor- oder Nachspiel im Concerto Grosso, den Refrain. Für Deleuze/Guattari bedeutet das Ritornell ein „Zwischen“, den Bereich zwischen Ordnung und Chaos:

Ein Kind, das im Dunklen Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Im Einklang mit seinem Lied geht es weiter oder bleibt stehen. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem Lied zu orientieren. Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges Zentrum mitten im Chaos. Es kann sein, daß das Kind springt, während es singt, daß es schneller oder langsamer läuft; aber das Lied selber ist bereits ein Sprung: es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft auch jederzeit Gefahr zu zerfallen.“ (Gilles Deleuze/Felix Guattari: Zum Ritornell, in: Tausend Plateaus)

Mit Hilfe des Ritornells gelingt es, ein „Territorium“, ein „Zuhause“ zu schaffen, von dem aus jedoch wieder aufgebrochen werden kann, das „Fluchtbewegungen“ ermöglicht.

Als höchstes Ziel in der Musik ein deterritorialisiertes Ritornell schaffen, es in den Kosmos freilassen, das ist wichtiger, als ein neues System schaffen. Das Gefüge für eine kosmische Kraft öffnen.“ (Gilles Deleuze/Felix Guattari: Zum Ritornell, in: Tausend Plateaus)

In der Komposition grüntrübe Ritornelle beim Verlassen des Territoriums wird die Gitarre umgestimmt (3. bis 11. Teilton von A) und durch die Präparation mit Kapodaster und zwei Metall-Löffeln in mehrere Abschnitte geteilt, die getrennt voneinander spielbar sind. Auf diese Weise entsteht ein nicht normiertes Tonsystem. Mit Hilfe von Kontaktmikrophonen werden die Gitarrenklänge in den verschiedenen Spielbereichen akustisch unter die Lupe genommen und auf mehrere Lautsprecher im Raum projiziert, bewegt und somit auf einer weiteren Ebene deterritorialisiert. Für das Publi­kum ist der Gitarrist nur im Profil sichtbar, so verwandelt sich die Aufführung in ein instrumentales Musiktheater, in eine Choreogra­phie für zwei Hände, die das Territorium der Gitarre erkunden.

Tobias Klich (Gitarre), CHEN Chengwen (Klangregie)
Filmische Interpretation von James Chan-A-Sue + Tobias Klich (2018–20)

Filmische Interpretation (Ausschnitt) von Paul Melzer + Tobias Klich (2012)

Tobias Klich (Gitarre), Constantin Popp (Klangregie)
06.09.2013 | Gaudeamus Muziekweek Utrecht

Pressestimmen

De internationale jury oordeelde over Tobias Klich: »Hij is een echte verteller, een componist met een maximum aan expressief potentieel. Klichs muziek pakt de luisteraar direct. Zijn compositientechniek is consistent en leidt tot hoogst verzorgde, fantastische klanken.«

Die internationale Jury urteilte über Tobias Klich: »Er ist ein wahrer Geschichtenerzähler, ein Komponist mit maximaler Ausdruckskraft. Klichs Musik packt die Zuhörer direkt. Seine Kompositionstechnik ist konsequent und führt zu höchst fantastischen Klängen.«

de Telegraaf (Niederlande) | Gaudeamuspreis 2013

Unter den zum Wettbewerb ausgesuchten dreizehn Kompositionen erhielt Tobias Klich den Preis: Für eine ausgedehnte, aber durchaus fesselnde Klangstudie für präparierte und verstärkte Gitarre und Elektronik, deren verschlungene Wege ebenso auf ein zugrundeliegendes Narrativ deuteten, wie der Titel: grüntrübe Ritornelle beim Verlassen des Territoriums.

Ingo Dorfmüller | MusikTexte 139 | November 2013